Negativer Nachmittag: Lukrez oder der poetische Materialismus
Wie immer mit Kaffee und Keksen in der HSB.
Lukrez’ Lehrgedicht »De rerum natura«, »Über die Natur der Dinge«, gehört zu den Urtexten des philosophischen Materialismus. Der Autor hält die Anbetung von Göttern für geist- und lebensfeindlichen Unsinn, stellt dar, warum die Welterklärung gut ohne sie auskommen kann – und polemisiert nebenher fleißig gegen die naturphilosophische Konkurrenz, die sich statt an Epikur lieber an Demokrit orientiert. Seine Darlegungen, warum und wie die Dinge aus den so genannten Urelementen, den Atomen, aufgebaut sind, sind nicht nur bemerkenswert weitsichtig, sondern häufig auch von bestechender Plausibilität; seine Lehre des »clinamen«, der winzigsten Abweichung der Atome von ihrer Bahn, stellt einen der originellsten Beiträge des Materialismus zum Freiheitsproblem dar. Die Wiederentdeckung Lukrezens im 15. Jahrhundert beflügelte die Gedankenwelt der europäischen Renaissance, und auch für Marx bildete, wie dessen Dissertationsschrift zeigt, die Auseinandersetzung mit der epikureisch-lukretischen Tradition einen Ausgangspunkt seiner theoretischen Entwicklung.
Auf dem Negativen Nachmittag wird es eine kurze Einführung ins Werk geben. Anschließend wollen wir diskutieren, was eine zweitausend Jahre alte Atomlehre uns heute, im Zeitalter der Elektronenmikroskope und Teilchenbeschleuniger, noch zu sagen hat – und was der poetische Materialismus zum Ausdruck zu bringen vermag, was im wissenschaftlichen vielleicht verschütt gegangen ist.